Meine Eltern haben mich am Rosenmontag mit in Kramers Eckkneipe genommen. Ich klettere auf einen Barhocker an der Theke und bin im Nu von der drallen Frau Kramer fasziniert, die kirschrote Lippen hat und einen Fliegenpilzhut trägt. Ich kann meine Augen nicht abwenden. Ich bin wie gebannt, so schön ist sie. Übermütig zapft sie das Bier und füllt die kleinen Schnaps- und Likörgläser. Alles geht ihr so leicht von der Hand. Sie bewegt sich beim Zapfen zur Musik und prostet den Gästen ausgelassen zu und zwischendurch raucht sie eine Zigarette. Meine Mutter steht neben mir und hat sich bei meinem Vater untergehakt. Aus der Musikbox tönt Du kannst nicht treu sein und alle singen mit. Ich beobachte, wie ein Mann nach einer Frau greift, sie hat nichts dagegen, und sie an sich presst. Beide sehen sich ewig lange in die Augen und schließlich verschwinden sie hinter einem riesigen Garderobenständer. Meine Mutter ist dieses Liebesspiel wohl auch nicht verborgen geblieben und baut sich jetzt hinter mir auf, um mir den Blick zu versperren. Ich bin aber ohnehin wieder ganz bei Frau Kramer mit ihrem Hütchen und ihrem Kirschkussmund. Jetzt erst fällt mir ihr ärmelloses rotes Kleid mit weißen großen Punkten auf und immer, wenn sie hinter der Theke hervorkommt und die Gäste an den Tischen bedient, dann schwingt ihr Glockenrock so mitreißend, dass ich Lust bekomme, mich mitzubewegen. Und dann, als es schon spät ist und meine Eltern aufbrechen wollen, weil ich ja ins Bett muss, und als die Kneipenluft zum Durchschneiden ist, weil doch alle, sogar mein Vater, geraucht haben, da drückt einer an der Musikbox Heile, heile Gänsje und wieder singen alle mit, und nicht wenige haben Tränen in den Augen, das habe ich genau gesehen, so ergriffen sind sie, so schön und lustvoll und auch so traurig. Ich will noch gar nicht gehen, aber meine Eltern meinen: „Es wird Zeit.“
Rosenmontag
