Die Mutter breitet hastig Zeitungspapier auf dem Küchentisch aus. Sorgsam cremt sie die Schuhe ein und wienert sie anschließend am offenen Vorratsfenster blitzblank. Der Wind bläst Schneeflocken auf die Fensterbank und der Mutter ins Gesicht. Sie schließt das Fenster und trocknet mit ihrem Schürzenzipfel das Gesicht. „Hier“, sagt sie zum Bruder und reicht ihm die sauberen Schuhe. Der Bruder zieht die Schuhe an, es dauert, es sind hohe Schuhe mit Hakenverschluss. Gekonnt schnürt er sie überkreuz, zieht die Schnürbänder mit einem Ruck fest und bindet eine Schleife. Die kleine Schwester kniet auf dem Küchensofa und sieht ihm versonnen zu. „Heute wirst du weit laufen müssen, du brauchst festes Schuhwerk“, sagt die Mutter „ und warme Kleidung.“
Der Bruder zieht im Flur Jacke, Schal und Mütze an und beeilt sich aus dem Haus zu kommen. Die kleine Schwester hüpft vom Sofa und läuft ins Schlafzimmer. Vom Fenster aus sieht sie dem Bruder nach, bis ihn das Schneegestöber verschluckt. Die Mutter sagt: „Heute bringen die heiligen drei Könige Gottes Segen in die Häuser. Dein Bruder ist auch ein König.“ Die kleine Schwester bleibt am Fenster. Der Bruder ein König? Sie wartet am Fenster. Die Mutter sagt: „ Das kann dauern, bis sie zu uns ins Tal kommen.“ Es dämmert schon, als drei Gestalten die Treppe zur Haustür hochsteigen. Die Mutter öffnet die Haustür. Vor lauter Aufregung erkennt die kleine Schwester den Bruder nicht sofort, aber dann doch. Er trägt ein langes Gewand und hat eine Krone auf dem Kopf. In der Hand hält er einen langen Stil, an dem ein großer goldener Stern befestigt ist. Der zweite König ist schwarz im Gesicht. Auch er trägt ein langes Gewand und eine Krone. In der Hand hält er eine Dose. Der dritte ist auch ganz prächtig gekleidet, wie die beiden anderen, aber seine Krone ist etwas kleiner und in der Hand hält er einen Stoffbeutel, an dem er schwer trägt.
„ Wir sind drei Könige aus dem Morgenland, mit einem Stern von Gott gesandt. Der Stern war groß und wunderbar und leuchtet wie die Sonn‘ so klar“, singen die heiligen drei Könige. Die kleine Schwester ist ganz und gar hingerissen und kann den Worten nicht weiter folgen. Dann endet der Gesang und mit fester Stimme sprechen die drei Heiligen: „Wir drehen den Stern und loben den Herrn, auf Wiedersehen bis zum nächsten Jahr.“ Und während Sie sprechen, dreht der Bruderkönig feierlich den Stern. Die Mutter nimmt aus ihrer Schürzentasche ein Fünfmarkstück und steckt es in die goldene Büchse. „ Wartet“, sagt sie und holt aus der Küche noch eine Tafel Schokolade. Die gibt sie dem König, der den Stoffbeutel trägt. Der schreibt mit Kreide etwas an die Haustür. „Den Segenswunsch“, erklärt die Mutter. Sie bedankt sich bei den Dreien, die machen kehrt und ziehen weiter.
Es ist schon dunkel, als der Bruder nach Hause kommt. Er ist müde und mürrisch. Er setzt sich an den Küchentisch, wird von der Mutter mitfühlend bedient. Der kleinen Schwester wirft er einen unfreundlichen Blick zu. Die Schwester erschrickt. Das ist nicht der König von eben, das ist der Bruder wie immer.