Meine Mutter drückt mir den Apfelpflücker mit verkürztem Stil und einen kleinen Eimer in die Hand und hängt sich ihre große Einkaufstasche über den Arm. Sie sieht sehr entschlossen aus, und herrscht mich an, nicht so ein verdrießliches Gesicht zu ziehen. Im September pflücken wir Sternrenetten, sagt sie so, als müsste ich das doch wissen, die bleiben bis Weihnachten im Keller. Das wird mühsam, denke ich, denn Sternrenetten wachsen an einem Höhenweg, einem Feldweg, der unsere kleine Stadt mit einem nahegelegenen Dorf verbindet und der Weg dorthin hat’s in sich. Meine Mutter ist stark übergewichtig und schon nach kürzester Zeit, wir haben erst den Abstieg ins Tal hinter uns, der Aufstieg durch den Wald zu unserem angesteuerten Ziel liegt noch vor uns, giftet sie mich an, nicht so schnell zu laufen. Ich denke, egal, wie ich es mache, es ist verkehrt. Also schalte ich einen Gang zurück und steige nun Seite an Seite mit meiner schwer atmenden Mutter den Sternrenetten entgegen. Der Weg scheint mir endlos zu sein, aber irgendwann lichtet sich der Wald. Vor uns, ganz versteckt steht im Gebüsch ein Häuschen mit Schornstein. Ein Hexenhaus, sage ich, und möchte mir das Häuschen näher angucken. Aber meine Mutter zieht mich weiter. Wer denen wohl die Erlaubnis gegeben hat, hier in unserem schönen Wald so eine Hütte zu bauen, schimpft sie und holt mich augenblicklich aus meiner Märchenwelt zurück. „Denen“ das ist eine Familie aus der nahen Kreisstadt, und nach Meinung meiner Mutter hat die hier nichts zu suchen. Ich frage nicht nach und bin heilfroh, als wir endlich die Sternrenetten in der Ferne an den Bäumen leuchten sehen. Ganz erwartungsfroh bin ich mit einem Mal und meine Mutter wohl auch. Jetzt nur noch ein paar Schritte, sagt sie aufmunternd zu mir. Und dann laufen wir den Feldweg entlang, der von Apfelbäumen gesäumt ist. Der Baum darf nicht so hoch sein, sagt meine Mutter. Sie zieht den Reißverschluss ihrer Einkaufstasche auf und nimmt mir den Apfelpflücker ab und schon ist sie in ihrem Element. Du sammelst die Äpfel von der Erde auf, sagt sie und pflückt und pflückt. Ich knie am Boden, an diesem sonnigen Septembernachmittag und lese die Äpfel auf, während in der angrenzenden Wiese Heu gewendet wird. Für einen Moment ruhe ich aus und sehe dem Bauern bei der Arbeit zu. Das Sonnenlicht bricht sich im aufgewirbelten Grasschnitt und die Luft flimmert herrlich golden. Ich habe gar keine Lust noch länger Äpfel aufzulesen und gehe in Gedanken schon den beschwerlichen Weg nach Hause zurück.
Und da, auf einmal, taucht dieser Mann am Waldrand auf. Ich ziehe meine Mutter am Rocksaum und zeige in seine Richtung. Meine Mutter lässt etwas unwillig von ihrer Pflückerei ab und beschirmt ihre Augen, um besser sehen zu können. Augenblicklich verfinstert sich ihre Miene. Der hat mir noch gefehlt, sagt sie. Der Mann kommt langsam auf uns zu und bleibt dann in einiger Entfernung beinahe reglos stehen. Wie riesig sein Kopf ist, denke ich, und wie bleich er ist. Seine glasigen Augen sind auf uns gerichtet. Mir ist ganz mulmig zumute und auch meiner Mutter ist die Lust an den Sternrenetten vergangen.
Mit seinem langen Ledermantel und einer Tasche, die er an einem Riemen quer über seinem Körper trägt, sieht er wirklich zum Fürchten aus. Er hält in seiner linken Hand ein Fernglas. Der rechte Ärmel hängt schlaff herunter und mit Entsetzen sehe ich statt einer Hand einen Stahlhaken herausblinken. Ich sehe meine Mutter an. Sie muss wohl mein Entsetzen bemerkt haben und klärt mich im Telegrammstil auf: Der Flurschütz! Mein Jahrgang! Kriegsinvalider! Hastig zieht sie den Reißverschluss ihrer Tasche zu. Von dem lasse ich mir nicht in die Tasche gucken. Komm! Wir machen uns auf den Heimweg, meine Mutter geht betont langsam, wir müssen an dem Flurschütz vorbei, meine Mutter, mit Tasche und Eimer, nickt ihm leutselig zu. Aber kaum sind wir außer Sichtweite, geht’s im Laufschritt, ohne uns noch einmal umzudrehen, weiter, und selbst als zu Hause die Tür ins Schloss fällt und meine Mutter schon dabei ist, die Äpfel auf dem Küchentisch auszubreiten, kann ich mich lange nicht beruhigen.

