Endlich, es klingelt, das kann ja nur Ingrid sein. Ich reiße die Tür auf. Ingrid ist ganz außer Atem. Komm, sagt sie, Hannelore wartet schon, wir sollen uns beeilen. Über Ingrids Schulter hinweg sehe ich wie Hannelore auf unserer Hausmauer mit ausgestreckten Armen balanciert; wie eine Seiltänzerin sieht sie aus. Hannelore ist Ingrids Schwester, ein Jahr älter als wir und tut immer sehr vernünftig. Ingrid und ich tauschen verräterische Blicke, haken uns unter und sausen an ihr vorbei. Hannelore hinterher, wir lassen uns heute nichts von ihr vorschreiben – das ist beschlossene Sache.
Hannelore trägt einen kleinen Eimer und Ingrid eine Plastikkanne mit Deckel; meine Aluminiumkanne hat natürlich keinen Deckel. Egal, wir lassen die Häuser hinter uns und laufen einen schmalen Pfad ins Tal hinunter. Es ist noch früh und weil wir Sandalen tragen, werden unsere Füße ganz nass im Gras. Der Himmel ist heute so blau, dass mir für einen Moment ganz schwindlig wird. Wir laufen weiter zum nahen Wald, müssen uns jetzt tüchtig anstrengen, denn jetzt geht’s bergauf, und schließlich erreichen wir die Waldschneise mit den Himbeersträuchern. Wir stürzen uns auf die Früchte und stopfen uns den Mund voll, spüren nicht, wie unsere Beine von den Dornen zerkratzt werde.
Hannelore ermahnt uns, unsere Kannen zu füllen. Wir meutern und strecken ihr die Zunge heraus. Gegen Mittag sind unsere Kannen dann aber doch randvoll
Völlig erledigt sitzen wir mit unseren Früchten in der prallen Sonne und für eine ganze Weile sind wir sprachlos.
Dieses Beerenrot unter klarem Himmelblau macht uns richtig, aber wirklich so richtig glücklich.
In den Himbeeren
Ich ziehe meine Kniestrümpfe hoch. Meine Mutter holt die Aluminiumkanne aus der Vorratskammer und gibt sie mir. Sie ist etwas verbeult und ich würde viel lieber mit einer Plastikkanne in die Himbeeren gehen, so wie Hannelore und Ingrid, aber so was gibt’s bei uns nicht, sagt meine Mutter.

